Reinhold Messner: Die Schöpfung des Nichts
Reinhold Messner ist ein vielschichtiges Faszinosum. Ein Gespräch über die Kreativität des Pionier-Seins, den Zauber einer neuen Route und die Wichtigkeit des Narrativen.
Reinhold Messner ist nicht tot. Dass er trotzdem geradewegs ins Fegefeuer springt, hat einen anderen Grund: „Da wor i no nit!“ Er will selbst der Hölle eine Erstbesteigung hinterlassen.
Als Bergsteiger ist Messner so berühmt, er hat sein eigenes Genre an Witzen hervorgebracht. Aber jede Karikatur hat auch einen wahren Kern, Tatsachen werden nur überspitzt. Und die Tatsachen sind im Falle Messners eine schier unfassbare Ansammlung an Pionierleistungen. In seiner Vita beginnen auffallend viele Sätze mit: ‚Erster Mensch, der …‘. Erster sein, etwas für unmöglich Deklariertes möglich machen, das ist seine Lebensaufgabe.
Ein stilvoll renovierter Bergbauernhof im Südtiroler Dörfchen Sulden, 1.906 m. Messner öffnet die Tür. Die Hände, die ihn auf so viele hohe Gipfel geschleppt haben, sind friedvoll zum traditionellen nepalesischen Gruß gefaltet: „Namaste, kommt’s herein“. Die Bräune scheint durch die viele Höhensonne ins Gesicht gebrannt, der tibetische Dzi-Stein hängt kultig an seinem Platz um Messners Hals. Auch die Messner’sche Mähne gibt sich unzähmbar und wild wie eh und je, wenngleich sich die Haarpracht des inzwischen 76-Jährigen inzwischen ins Gräuliche gefärbt hat.
Draußen dominieren die Ortler-Alpen das Landschaftsbild, fast 4.000 Meter ragen die Eisriesen in den Himmel. Nicht nur deshalb weht hier ein Hauch von Himalaya-Flair: Auf den antiken Schränken im Wohnzimmer tanzt der Teufel, ein tantrisches Motiv der Tibeter, darauf eine bronzene Statue der Gottheit Garuda, wie sie in Groß auch auf dem Flughafen in Kathmandu steht. Vom Küchenfenster erspäht man eine Herde zotteliger Rinder mit langen, geschwungenen Hörnern, Yaks. „Zwölf haben wir noch, übern Sommer sind sie oben auf der Alm“, erklärt Reinhold Messner, ganz Bergbauer. Stück für Stück hat er sich diesen verfallenen Hof erworben und gefühlvoll renoviert. „Jetzt ist es die letzte noch funktionierende Landwirtschaft im Ort“, sagt er, seine Yaks überblickend. „Yak und Yeti“ heißt das angrenzende Restaurant, ebenfalls ein restauriertes altes Bauernhaus, gleich daneben eines seiner sechs Museen, das Messner Mountain Museum Ortles. Man kann mit Reinhold Messner über vieles reden, bevor es überhaupt ums Bergsteigen geht. Zum Interview nehmen wir in tiefen Bastsesseln Platz, kredenzt wird Filterkaffee mit Keksen und Flint – Messners kleiner Terrier mit den schwarzen Punkten am Rücken – springt auf den Schoß und lässt sich genüsslich kraulen.
Wenn es ein Lebensmotto von Messner gibt, dann dieses: Ideen haben und umsetzen. Er ist ein Macher. Doch auch bei ihm drückte die weltweite Pandemie auf den Pausen-Knopf, seine sonst so grenzenlose Zuversicht eines Überlebenden strahlt blasser. Gäbe es kein Coronavirus, er wäre mit seiner Lebensgefährtin gerade im Sydney Opera House und würde ein multimedial orchestriertes Konzert über die Wichtigkeit des traditionellen Alpinismus dirigieren. Stattdessen: Sulden und Filterkaffee.
Eine Frage des Stils
Eine gute Zeit für Reflexionen also. Was treibt Sie an, Herr Messner, immer und immer wieder Erster sein zu müssen? Zuerst ein Schluck Kaffee, dann geht es los: „Pionier war ich nicht im geografischen Sinne. Sondern ich war Pionier im Sinne des Erfindens von neuen Zugängen, neuen Herausforderungen. Ich habe mir also die Herausforderungen selbst erfunden, die es vorher nicht gab.“
Messners bergsteigerische Erfolge werden meist gebetsmühlenartig jedem Text über ihn vorangestellt: Erster Mensch auf allen Achttausendern, die Polarexpeditionen, die Wüstendurchquerungen. Und dennoch ist für ihn ein anderes, weniger öffentlichkeitswirksames „erstes Mal“ ein viel wichtigeres Ereignis: 1975, die Besteigung des Hidden Peaks (8.080 m) zusammen mit Peter Habeler. Und zwar nur mit ihm: „Alles, was wir zum Überleben in dieser extremen Höhe brauchten, hatten wir in unserem Rucksack dabei. Kein riesiges Expeditionsteam, keine Fixseilversicherungen, keine Sauerstoffflaschen. Es war der erste Achttausender, der im Alpinstil bestiegen wurde, so wie wir auch auf das Matterhorn steigen. Das war eine stilistische Pionierleistung mit viel Eleganz“, erinnert sich Messner.
Und es ebnete den Weg für mehr: „Durch den Hidden Peak haben der Peter und ich einen Schritt gemacht, den alle anderen auch geistig am Beginn nicht nachvollziehen konnten. Und damit hatten wir einen Erfahrungsvorsprung, den wir kontinuierlich ausbauten, 1978 waren wir auch am Everest ohne Maske. Und das war im Grunde das Letzte, was ich gemacht habe, was wirklich alle Menschen als etwas Einmaliges verstanden haben.“ Weil alle Wissenschaftler und Ärzte – nicht die Bergsteiger! – behauptet hatten, in dieser Höhe könne ein Mensch unmöglich ohne zusätzlichen Sauerstoff überleben. Und dann ist es doch gelungen, selbst bei schlechten Verhältnissen. Die bergsteigende Welt hat realisiert: „Es kommt einfach drauf an, es anders zu machen als früher. Dieses Anders-Machen ist der Clou“, weiß Messner, er hat es bewiesen.
Er war angekommen in einem Jahrzehnt, seinem Jahrzehnt, wo er allen um die Nase kletterte. An diese Zeit denkt Messner mit unüberhörbarem Stolz zurück: „Von einem Tun ins Nächste hat sich eine neue Herausforderung aufgetan. Ich bestieg als erster drei Achttausender in einem Jahr, der Hattrick. Dann hatte ich noch die Idee, zwei Achttausender in einer Überschreitung zu machen, die Gasherbrum-Geschichte. Ich hatte das Leadership in der Hand. Und das lässt Flügel wachsen. Damit waren meine Ideen zu Ende, dann hab‘ ich nur mehr die Achttausender zu Ende gemacht.“ Klingt ein wenig so, wie andere Menschen von einem sich in die Länge ziehenden Uniabschluss erzählen. Endlich fertig.
Schöpfung des Nichts
Messners Pionierleistung lag also gleichermaßen im physischen, der Sportlichkeit, wie im psychischen, der Kreativität. Dem etwas als Erster machen steht immer ein etwas als Erster denken vor. Im Alpinismus fängt dieser Prozess mit dem Imaginieren einer neuen Linie durch eine Wand an: Wo könnte ich durchkommen, ohne umzukommen? Dann wird beim Klettern die Entsprechung im Fels und Eis dazu gesucht. Der wortgewandte Reinhold Messner – er ist Autor von mittlerweile mehr als 50 Büchern – findet dafür einen schönen Ausdruck: Die Schöpfung des Nichts. „Am Ende bleibt die Linie als eine Art Kunstwerk. Aber es ist nichts da, nichts Greifbares, ich kann das Kunstwerk nicht kaufen. Ich kann es als Schöpfer auch nicht verkaufen. Ich kann es höchstens beschreiben“, sagt er.
Beschreiben, ein gutes Stichwort. Mittlerweile sind wir bei der zweiten Tasse Kaffee angelangt. Wenn Reinhold Messner einmal in Fahrt ist, wenn es um Bergsteigergeschichten geht, dann hält ihn so schnell nichts mehr auf, die Lockdown-Müdigkeit ist wie weggefegt. „Deshalb ist im traditionellen Alpinismus, der in Zahlen nicht messbar ist, das Narrativ so wichtig. Dass die Geschichten erzählt werden. Es geht um die Haltung. Nicht, darum was richtig oder falsch ist. Wir urteilen nicht, wir erzählen eine Geschichte. Es findet in einem anarchischen Raum statt, nach anarchischen Mustern. Es gibt keinen Gesetzgeber, wenn ich auf Berge steige.“
Terrier Flint ist inzwischen weggedöst, die Yaks weitergezogen. Irgendwas wollten wir noch fragen … ach so, kennen Sie den schon? Treffen sich zwei Yetis. Sagt der eine: „Du, gestern hab ich Reinhold Messner gesehen.“ Darauf der andere: „Was, den gibt‘s wirklich?“
2 Tourentipps von Reinhold Messner
1: Schleierkante (UIAA 5+), Cima della Madonna (2.733 m), Palagruppe
400m, 12 SL
Reinhold Messner schwärmt: „Die Schleierkante galt früher als die schönste Kletterei der Welt, mindestens als die schönste Dolomitenkletterei. Wirklich ein phantastischer Anstieg. Es ist wie ein Tanz, wenn da gute Kletterer hochturnen“. Bei den europäischen Kletterern sei sie über die letzten Jahrzehnte etwas in Vergessenheit geraten, weil sie nicht mehr so en vogue ist wie früher. Auch deshalb hat Messner 2020 einen kurzen Film über den Anstieg gedreht, in der Hauptrolle klettert sein Sohn Simon.
- Charakteristik: „Seit ihrer Erstbesteigung 1920 galt die Schleierkante als das Limit des Machbaren mit absoluter Sicherheit, sprich ohne Absicherungen“, erklärt Messner. Man darf aber getrost auch Seil und Klemmkeile mitnehmen: Die Schleierkante ist eine grandiose Linie in kompaktem Fels. Für die Absicherung finden sich zahlreiche Sanduhren, Normalhaken stecken dort, wo es notwendig ist.
- Zustieg: Vom Parkplatz der Malga Civertaghe (1.438 m) in gut 2 Stunden zum Refugio Velo. Ab dort in 15 Minuten zum Einstieg.
- Routenverlauf: Immer der Nord-Westkante nach! Wobei es speziell im unteren Bereich auch mehrere Möglichkeiten gibt, einen Körperriss inklusive.
- Abstieg: Vom Gipfel zum Winklerkamin, an Abseilringen 2x20m abseilen & abklettern bis in die Scharte. Rinne rechts bis in eine zweite Schlucht folgen (20m Steilstufe abseilen), anschließend auf Steigspuren zur Hütte. Mit roten Pfeilen und Punkten markiert.
- Einkehr: Am besten in der Refugio Velo, nach 400 Klettermetern und 2,5h Abstieg dürfte der Hunger und Durst wohl vorhanden sein (www.rifugiovelodellamadonna.it).
2: Messner-Direttissima (UIAA 5), Neunerspitze Südwand (2.968 m), Fanesgruppe
270 m, 6 SL
„Eine schöne Tour von mir an der Neunerspitze Südwand, ganz, ganz ausgefallen. In der Fanesgruppe, an der Südwand der Neunerspitze, hat das Wasser im Laufe von Jahrhunderttausenden diese Platten ausgefressen, sodass man wunderbar im 4. und 5. Grad klettern kann. Das ist wirklich etwas, das gibt es sonst nirgends auf der Welt in dieser Form“, beschreibt Reinhold Messner seine Eigenkreation.
- Charakteristik: Die Routen hier sind die Plattenklassiker in den Dolomiten schlechthin. Die „Messner“ ist eine der wenigen großen Wasserrillentouren in den Dolomiten, auf Bohrhaken darf man aber nur am Standplatz hoffen. Die Platten muten schier endlos an: „Da hat die Plattentektonik den Dolomit so aufgeschoben, dass er anders geschichtet liegt als sonst. Die Erstbegehung gelang mir in relativ jungen Jahren, aber im Grunde kann man da überall klettern“, sagt Reinhold Messner.
- Zustieg: Von der Lavarellahütte bzw. der nahen Fanesalm dem Weg Nr. 7 bis auf das Hochplateau folgen, von dort aus in unwegsamem Gelände unter die markante Südwand der Neunerspitze.
- Routenverlauf: Im unteren Bereich über Wasserrillen bis auf ein Schuttband (auf Steinschlag achten). Danach rechts in die Verschneidung und hinauf bis zum Gipfel.
- Abstieg: Entlang des Bergrückens auf dem Normalweg Richtung Osten (teilweise Stahlseil) zum Antoniusjoch absteigen. Alternativ durch eine Schuttrinne östlich des Gipfels in eine Verschneidung und 2x 60m Abseilen.
- Einkehr: Von der Fanesalm sind es noch gut 1,5h zum Einstieg, bis dort geht man 2h. Oder man fährt mit dem E-Bike zur Alm, dann muss man nach der Knödelsuppe nur noch ins Tal rollen! www.rifugiofanes.com
Artikel erstmals veröffentlicht im Bergwelten Magazin Special “Legenden”, 2021