Winterklettern Flexenpass Vorarlberg Bergwelten Simon Schöpf

Kalte Hände, warmer Tee

Vom Sinn und Unsinn, eine Sommersportart in den Winter zu verschieben. Für die Spitzenalpinisten Barbara Zangerl und Alexander Luger die logischste Sache der Welt.

(Geschichte erstmals erschienen im Bergwelten Magazin Winter 2020 mit den grandiosen Fotos des legendären Ray Demski. Fotos unter halb von mir.)

Ein Bilderbuchtag am Arlberg, die Wiege des Skisports strahlt wie aus einem dieser Hochglanzprospekte: Wolkenloser Himmel, solide Schneelage, 305 Kilometer mühevoll präparierter Pisten. All das interessiert Barbara Zangerl und Alex Luger allerdings überhaupt nicht. Ihr geteilter Fokus liegt einzig auf dem 20 Meter hohen, senkrechten Felsriegel vor ihnen. Oder besser gesagt, wann die Sonne endlich über den Albonagrat wandern wird, um der Wand am Flexenpass in Vorarlberg ihre wärmenden Strahlen zu spenden. Derweil ziehen sie geduldig ihre dicken Daunenjacken enger, gönnen sich noch einen Schluck Kräutertee aus der verbeulten Thermoskanne und prognostizieren stoisch: „De kommt scho glei.“

Die Skifahrer werden heute wohl wieder in die Tausende gehen, werden sich an Liftkassen anstellen, zu Mittag um die besten Terrassenplätze buhlen. Von diesem Trubel bekommen Barbara und ihr Seilpartner Alex Luger jedenfalls keinen Deut mit, hier im großen Schneefeld unter der Felswand nur Ruhe und Einsamkeit, das Credo: Kalter Fels statt volle Piste. Klettern und Winter, in dieser Kombination inkludiert das für die meisten von uns wohl ganz automatisch die wohltemperierte Halle mit ihren schön-farbigen Kunstharzgriffen. Sich am eiskalten Kalk die Finger abfrieren und anschließend noch zähneklappernd das Sicherungsgerät bedienen? In der kalten Jahreszeit an den Fels zu gehen erscheint da ähnlich abwegig wie Rodeln im Sommer. Für Barbara und Alex aber die normalste Sache der Welt. „Für harte Routen brauchst du kühle Temperaturen und trockene Luft. Dann ist auf den kleinen Griffen der Grip besser, in der Hitze würdest‘ da nur runterrutschen“, rechtfertigt Alex ihr Tun. Er bemüht sich dabei, nicht besserwisserisch zu wirken. Denn die beiden wissen, wovon sie sprechen. Sie gehören zu den besten Kletterern des Landes, nein: der Welt.

Barbara „Babsi“ Zangerl zählt zum enggeflochtenen Kreis der Vertikalathletinnen, die eine Route im astronomischen Schwierigkeitsgrad 9a rotpunkt durchsteigen konnten, „Speed Intègrale“ am Voralpsee – ein Meisterstück der Felslegende Beat Kammerlander. Dazu ihr mehr als berechtigter Ruf als eine der besten Allrounderinnen der Szene, die anspruchsvollsten Bigwall-Routen des Yosemite stehen genauso auf ihrer Ticklist wie High-End-Boulder in den südafrikanischen Rocklands. Aufgewachsen ist die Weltenbummlerin allerdings ganz nah, einmal über den Arlbergpass und ein paar Dörfer rein nach Tirol, in Strengen. Ihrem zarten Gesicht mit dem ewigen Lächeln würde man solche Superkräfte gar nicht zuschreiben, doch unter vielen der anspruchsvollsten Alpintouren der Alpen steht ihr Name mit dem Zusatz „FFA“: first female ascent, die erste Wiederholung durch eine Frau. Was ihr auch den ehrenwerten Titel „Adventurer of the Year 2019“ von National Geographic einbrachte. Trotz dieser Rühmungen ist sie eine Meisterin im Understatement, die ihre Begeisterung für einen Aufwärm-7er mit der gleichen Ehrlichkeit weitergibt wie bei einem Durchstiegsversuch einer unwiederholten 8c+. Am Fels ist sie ganz einfach die Babsi, ihre Leidenschaft ganz wunderbar ansteckend.

Alex Luger, Vertikalathlet von der hiesigen Seite des Arlbergs, könnte dabei so etwas wie ein Seelenverwandter sein: Unglaublich stark, wahnsinnig entspannt. In seiner Vorarlberger Heimat ist er „bis auf ein paar Projekte so ziemlich alles geklettert, was es gibt“, inklusive bohrhakenfreie Erstbegehungen im haarsträubenden Schwierigkeitsgrad 8b+ („Psychogramm“, Bürser Platte). Deshalb geht er einer Sache mit besonders großer Leidenschaft nach, nämlich klettertechnisch und moralisch anspruchsvollste Neurouten mit seiner Hilti zu erschließen.

Der Rasiermesser-Fels

Langsam füllen sich im Hintergrund die Pisten des Skigebiets, bei jedem Schwung auf der Albona erstrahlt eine goldige Fahne Neuschnee im morgendlichen Gegenlicht. Noch ein Schluck warmer Tee, und dann blinzeln sie endlich auch hier vorsichtig über den Horizont, die ersehnten ersten Sonnenstrahlen an diesem Märztag, und Alex wird augenblicklich enthusiastisch: „Geat scho Babsi, jetzt wird an‘grissen!“

Als ob sich ein Riese mit einem Rasiermesser ein gelbes Stück Kalk für sein Jausenbrot abgeschnitten hätte: Die Wand am Flexenpass in Vorarlberg wirkt wie mit dem Lineal gezogen. „A brutales Ding, in der ganzen Wand gibt’s eigentlich keinen Griff, der größer is als eineinhalb Fingerkuppen. Und alle fühlen sich an, als ob lauter kline Nädeli drauf wären“, charakterisiert Alex den Klettergarten im charmanten Vorarlbergerisch. Rasiermesserscharfe, mikroskopisch kleine Leisten also – kein Wunder, dass die Routen hier nicht abgespeckt sind, selbst die Aufwärmtour checkt im oberen achten Schwierigkeitsgrad ein und ist damit bereits außer Reichweite für die meisten Hobbykraxler. Die restlichen Routen, anspruchsvolle Neuner und Zehner, auch hier hat Beat Kammerlander seine Spuren hinterlassen. Genau richtig für Babsi und Alex also.

Ein paar verhaltene Dehnübungen für die eingefrorenen Gelenke, das Seil wird aus dem Rucksack, die Kletterschuhe aus dem Innersten der Daunenjacke geholt. „Ein guter Trick für den Winter, dann musst nit in steifgefrorene Patschl’n einischliaf’n“, grinst die Tirolerin und schlüpft in die vorgewärmten Schuhe. Achterknoten ins Seil und los geht’s – allerdings erstmal langsam, der Fels ist trotz Sonneneinstrahlung noch eiskalt von der Nacht. Immer wieder pausiert Babsi an einem Bohrhaken, pustet warme Luft auf die Finger, schüttelt kräftig die Arme – der Kreislauf muss in Schwung kommen, das warme Blut bis ganz in die kalten Fingerspitzen. Mit Babsis Muskeln wärmt sich langsam auch die Wand, durch die südseitige Ausrichtung merkt man schon bald eine leichte Thermik einsetzen – der Fels beginnt abzustrahlen. Bald darauf fliegt Babsi‘s Longsleeve von oben herunter, die Wärme scheint endgültig angekommen. Klettern im T-Shirt, sichern in der Daunenjacke: Das ist der etwas bizarre Dresscode der Winterkletterer.

Die steilste Wand, wo i kenn

Während sich Babsi in der Wand aufwärmt, entschlüsselt Alex das Prachtpanorama Richtung Westen: „Da links, die Rückseite der Kirchlispitz im Rätikon, mit dem berühmten ‚Silbergeier‘. Rechts davon die Drusenfluh mit meiner Route ‚The Gift‘, 8c. Und dann kommt die Gelbeck-Wand mit mei‘m Projekt, die steilste Wand, wo i kenn“, sagt er. Zweieinhalb Jahre anspruchsvollstes Einbohren für sieben Seillängen – so etwas nehmen wohl nicht viele auf sich.

„Woa, isch des scharf!“, klingt es derweil von oben herab. Babsi ist in der Schlüsselstelle der Route angekommen, ein komplexer Bewegungsablauf an Seit- und Untergriffen in Miniaturformat. Aber ihr Motor ist inzwischen warmgelaufen und sie zeigt, was sie als Weltklasseathletin drauf hat: Katzengleich und elegant überwindet sie auch diese Stelle, ist am Umlenker angelangt. „De musst scho g’scheit hergripfen, de Griff‘“, kommentiert Babsi die Tour mit dezentem Understatement.

Während Alex sie langsam wieder Richtung Boden abseilt, sucht sich eine Gruppe Freerider im Hintergrund ihre Spur. Mittagszeit, die Skifahrer werden sich wohl bald um einen Platz in einer der vollen Skihütten bemühen. Babsi und Alex packen hingegen mit einem entspannten Grinsen ihr Jausenbrot aus und lehnen sich an die wärmende Wand am Flexenpass – der Logenplatz ist ihrer allein, garantiert ohne Anstehen. Sie diskutieren ihre Sommerpläne, es fallen Namen wie Eiger-Nordwand, Expedition nach Peru, Madagaskar. Eine auffrischende Windböe erinnert einen aber doch wieder daran, dass ja eigentlich Winter ist. Macht nichts, in der verbeulten Thermoskanne ist noch ein Schluck warmer Tee.

5 Winterklettergebiete zum Warmwerden

  • Känzele bei Bregenz, Vorarlberg: Ein guter Mix an leichten Touren in südseitiger Ausrichtung.
  • Dschungelbuch bei Zirl, Tirol: Kleine Leisten, volle Sonne. Im „Dschungel“ findet man an wolkenlosen Wintertagen die besten Bedingungen für sein Projekt.
  • Tessin, Schweiz: Cresciano und das Matschertal servieren genialen Granit für Boulderfans.
  • Hohe Wand, Niederösterreich: Große Auswahl am sonnenverehrenden Kalkriegel im Süden Wiens, oft auch über dem in der kalten Jahreszeit so präsenten Talnebel.
  • Arco und Sarcatal, Italien: Der große Klassiker für eine „Winterflucht“ in den Süden, entsprechend populär.

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