Die Kunst des Heuziehens
Im hintersten Valsertal wird eine uralte bergbäuerliche Tradition fernab touristischer Inszenierung mit großer Leidenschaft gelebt: Heuziehen. Gelebtes Brauchtum, und dabei gar nicht so ungefährlich.
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Reportage für das Servus Magazin, Winter 2021. Eine faszinierende Geschichte, so insgesamt, und mit den urigen Charakteren mehr als nur spaßig. Der kongenialen Elias Holzknecht, der die Fotos für das Magazin knipste, war als gestandener Ötztaler einer der wenigen der Zunft, der die Valser'talsche Dialektschärfe auf hohen Niveau kontern konnte, chapeau.
Und schon sind die „Hansens“ die Hälfte des Hangs bergwärts gestapft, durch knietiefen Neuschnee, einen Holzstab in der Hand und dazu ein seltsames Holzgestell geschultert. „A wia die Hennen rennen‘s davon. Nana, die Alten warten einfach nit …“, sagt Helga und schüttelt mit einem Lächeln ihren Kopf. Immerhin Erich erbarmt sich und gibt eine kleine Einschulung: „Des kearscht so über die Schulter …“. Und Erich – buschiger Schnauzer, abgetragener Strickpullover – muss es wissen. Auf die Frage, wie lange er schon Heu zieht, sagt er: „Jo mei, seit a neune, zehne.“ Damit meint er nicht seit neun, zehn Jahren, sondern: Seit er neun oder zehn Jahre alt ist. Heute ist er 72, das macht dann ein gutes Bündel Erfahrung. Erich weiß also genau, wie der „Ferggl“ – dieses seltsame Gestänge, worauf oben am Stadel das Heu geladen wird – richtig geschultert werden muss.
Dann stapfen wir los, den Trittspuren der zwei Hansens hinterher. Hansens im Plural, weil sie beiden eben Hans heißen und auch immer zusammen Heuziehen gehen, der Joosn-Hôns und der Manuels-Hôns. Letzterer nunmehr stolze 82, aber dabei trotz künstlichem Knie keinen Schritt langsamer. Sie sind zusammen mit Erich und Alois – allesamt kernige Männer mit großem Erfahrungsschatz – Helgas Helfer, denn wie sie weiß: „Des is koa Arbeit für Weiberleit. Ohne die Mander geht da nix.“ Aber ohne Frauen eben genauso wenig – Helgas Tochter Theresa ist mit dabei, auch die junge Generation packt kräftig mit an und lernt die eingeschliffenen Handgriffe von den Altvorderen.

Heuziehen, das ist im hintersten Valsertal – einem ruhigen Seitental des Tiroler Wipptals etwas nördlich des Brennerpasses – gelebte Tradition. Im Grunde geht es darum, das im Sommer handgemähte Heu der abgelegenen Bergmähder mit möglichst geringem Aufwand ins Tal zu transportieren. Kein Spektakel für fotografierende Touristen, kein inszenierter Almabtrieb sondern reiner Selbstzweck. Wahrscheinlich ist das Valsertal deshalb so speziell, weil nie versucht wurde, etwas Spezielles aus dem Tal zu machen. Keine Liftanlagen, keine Hotels am Wegesrand, nirgendwo ein Thermen-Tempel. Dafür alte Bauernhöfe in großen Abständen, Kapellen in regelmäßiger Frequenz, die größte Sehenswürdigkeit der mächtige Gipfel des Olperer (3.475 m) mit seinem markanten Gletschervorbau. St. Jodok am Taleingang ist ein „Bergsteigerdorf“, eine Auszeichnung des Alpenvereins für besonders ursprüngliche Orte in den Alpen, fernab des Massentourismus.
Alles für die Goaß
„Das Wichtigste ist, dass die Goaß im Winter was Gutes zum Fressen haben“, so sieht das Helga Hager. Und Helgas „Goaß“, ihre Ziegen, das sind 17 Tauern-Schecken, sie hören auf Namen wie Mocca, Felicitas oder Melange. Wenn Helga den Stall betritt, begrüßt sie ihr Vieh mit „Hallo, Mädels“. Den ganzen Sommer verbringen sie auf der Alm, der Peter’s Kaser auf der Nockeralm, oder seit ein paar Jahren eben: auf Helga‘s Alm.

Helga wuchs hier im Valsertal auf, verbrachte als Kind jeden Sommer mit den Großeltern auf der Alm. Und kehrte dann wie so viele junge Menschen dem Tal den Rücken, um die Welt zu entdecken, neue Perspektiven auszuloten. Als der Großvater starb, passierte auch mit der Nockeralm das, was in solchen Fällen oft passiert: Die Alm verkam, eine Kulturlandschaft im langsamen Niedergang. Weil sich niemand mehr darum kümmerte. Bis es Helga als ihre Verpflichtung ansah, die Alm zu übernehmen. Sie kam zurück ins Valsertal.
Nach einer halben Stunde Tiefschneestapfen durch steilen Wald versteht man auch, warum: Wir sind angekommen im „Oacherloch“, der Bergmahd Ahornloch. Helgas Augen leuchten, wenn sie mit einer ausladenden Handbewegung sagt: „Auf des bin i stolz.“ Stolz, diese Kulturlandschaft revitalisiert zu haben, durch das Sensen der Gräser, Schneiden der Büsche, Anlegen der Waale. Dadurch wird eine Artenvielfalt erhalten, die durch die jahrhundertelang gepflegte Kultivierung der Bergbauern erst entstanden ist. 20 Kräuter, die hier wachsen, findet man ebenso auf der roten Liste der bedrohten Pflanzen. Werden die Bergmähder nicht gemäht, gepflegt, gehegt, dauert es nicht lange, bis sie die Natur wieder zurückverwandelt in das, was sie vorher waren: Wald. Zur Bewahrung dieser Kulturlandschaft hat sich im Valsertal sogar ein Verein gegründet: Die „Schule der Alm“. Erklärtes Vereinsziel ist es, Almen und Bergmähder zu erhalten, jahrhundertealte Kulturtechniken zu pflegen. So wie das Heuziehen.

Heuziehen ist hier so alt wie die Landwirtschaft selbst. Und so selbstverständlich wie anderenorts das Erntedankfest. Früher war das Heu zum Überwintern lebensnotwendig – heute kann man das Trockenfutter im Internet bestellen, Lieferung frei Haus. Wieso tut man sich das an? Wieso durch Tiefschnee einen steilen Hang hinaufstapfen und schwer beladen wieder runterbrettern? Die Antwort ist vielschichtig. Fragt man die Hansens, den Erich oder den Alois, antworten sie unisono: „Weil’s nett isch“. Nett, mit den anderen zusammenzukommen. Nett, Bewegung an der frischen Luft zu haben. Nett, auch in der Pensionszeit einer sinnvollen Tätigkeit nachzugehen. Heuziehen ist gelebte Leidenschaft. Aber Heuziehen ist noch mehr.
Im duftenden Stadel
Wie lange der alte Stadel schon oben im Oacherloch steht, weiß keiner so genau. Irgendwie war er immer schon da, die dicken Holzbalken sonnengeschwärzt und von Flechten übersät. Die Hansens öffnen die rustikale Holztüre, sofort strömt eine Briese Sommer in die Nase. Bis unters Dach ist der alte Stadel mit Heu gefüllt. Nicht irgendein Heu, sondern bestes Bergwiesenheu. Wo ein Laie nur trockenes Gras sieht, taucht Alois in eine duftende Pflanzenvielfalt ein: „Da, Fingerkraut, Blutwurz, Frauenmantel. Und des da, die Silberdistel, eigentlich a ganz gutes Futter. Klappertopf ist weniger drin, Klee natürlich, hier und da ein paar Heidelbeeren.“ Alois lässt die zarten Halme durch seine starken Finger gleiten. Wenn er an einem Büschel riecht, atmet er tief ein und schließt dabei kurz seine dunklen Augen, als würde er sich für Millisekunden in eine andere Jahreszeit träumen. Es ist nicht bloß Heu, das hier ins Tal transportiert wird, es ist eine geballte Ladung Sommer.





Nur: Irgendwie muss diese Ladung Sommer runter ins Tal, zu den heißhungrigen Goaß. Dafür werden die Ferggl kräftig aufgeschichtet, zwischen 150 und 200 Kilogramm Heu passen auf die Holzgestelle. Das Beladen gleicht einer penibel einstudierten Choreographie, jeder Handgriff über Jahrzehnte perfektioniert. Es ist ein anstrengender Tanz: Bald sind die Rücken der Strickpullover vom vielen Heuaufgabeln schweißdurchnässt, die Finger wund. Brusthoch wird das Heu geschichtet und gepresst: „A biss’l geat schon no“, „Hau aui då!“, „Nana lass guat sein!“, die Neckereien im tiefsten Dialekt sind der begleitende Gesang. Mit Stricken und Knoten, wie sie sonst bei einer Atlantiküberquerung zum Einsatz kommen, wird gezerrt und gezurrt, bis sich eine kompakte Ladung ergibt. Die dann natürlich wieder einen eigenen Namen hat: Das „Reisl“. Und schön ausschauen muss es natürlich auch, das Reisl, weshalb es Erich mit großer Hingabe mit dem Rechen frisiert, bis seine Lodenhose voller Heu ist. „Die Frisur muss passen. Das wird jetzt a Bubikopf.“ Draußen vor dem Stadel werden noch zwei Fichtenzweige geweihartig angesteckt, „dass es was gleichschaugt.“ Heuziehen ist eine ästhetische Angelegenheit.
Achterbahnfahrt mit Heu
Jedem Heuzieher sein Reisl. Sind alle Ferggl bepackt und verschönert, kommt der wagemutige Teil des Tages: Der schwerkraftgetriebene Ritt hinunter ins Tal. Mit dem Rücken stemmen sich die Männer gegen die 150 Kilogramm Heu, die von hinten anschieben, die Fersen bremsend in den Schnee gerammt, dass es nur so spritzt. Gelenkt wird mit dem „Stackl“, einem dicken Holzstab mit Stahlspitze, es ist eine Slalomfahrt zwischen weiß-bezuckerten Fichten. „A guter Tipp: Überfahren solltest di nit lassen“, meint Erich trocken. „Heut gleitet‘s super, grad nit stehn bleiben“, schreit er noch, und weg ist er.

Das haben Heuziehen und Skitourengehen gemeinsam: Der perfekte Schnee ist das A und O. Ist er zu warm, bleibt man „picken“, ist er zu kalt, wird es schnell eisig und damit gleich unkontrollierbar wie gefährlich. Heute sind die Bedingungen genau richtig. Nach dem steilen Waldstück öffnet sich der Blick hinaus ins verschneite Valsertal, ein Blick hinein in ein Wintermärchen. Mit einem vergnügten Jauchzer schlittert auch der Joosn-Hôns mit einem irren Tempo über die letzten freien Wiesen bis ganz hinunter ins Tal. „A bissl laff‘n lassen“, nennt er das. Heuziehen ist eine spaßige Angelegenheit.




Mozart in Großmutters Küche
Früher warteten im Talboden die Ochsenkarren für den Weitertransport ins Dorf, heute ist es ein Allradfahrzeug. Ist das Heu im Stadel, folgt die verdiente Belohnung für die Mühen: Das gemeinsame Mittagessen in Helgas Elternhaus. Gleich nach dem Aufstehen hat Helgas Mutter Annemarie den Holzofen angefeuert, der Bockbraten ist seitdem am Schmoren. Aufgetischt wird in der Küche des alten Hofes, der direkt aus der Kulisse eines Heimatfilms entsprungen scheint: geblümte Vorhänge, buntverzierte Teller an der Wand, überall Jagdtrophäen. Helga serviert den Braten mit dem Kommentar „Bitteschön, das ist Mozart. Lasst ihn euch schmecken“. Das Essen ist hier so regional, dass man es mit dem Vornamen kennt. Böcklein Mozart war zwei Jahre alt. Selbst die Beilagenkartoffeln sind Eigenanbau.
Auch beim Essen ist die Qualität des Heus das dominierende Gesprächsthema, unter dem Herrgottswinkel werden alte Heuzieher-Geschichten ausgepackt. So wie die, als Lois vor ein paar Jahren fast mitsamt eines außer Kontrolle geratenen Ferggls eine hunderte Meter hohe Felswand hinuntergedonnert ist. Oder wie sie früher als Buben noch vor der Schule mit den Ochsenkarren helfen mussten. Mit den Geschichten wird in der launigen Tischrunde langsam klar, worum es wirklich geht: Heuziehen ist eine gesellschaftliche Angelegenheit. Die Bewahrung alter Traditionen schafft Bewusstsein für den Schutz der Kulturlandschaft, schafft Zusammengehörigkeit. Auch wenn es manchmal gefährlich ist. Mozart zergeht auf der Zunge. Der Kreis schließt sich.

Kleine Fibel des Heuziehens
- Ferggl: Die Ferggl sind die Lastschlitten für das Heu. Simpler, aber auch eleganter könnte man sich ein solches Transportmittel gar nicht vorstellen: vier rund zwei Meter lange Haselnuss-Stangen, drei Querstreben, ein bisschen Seilmaterial. Selbstverständlich baut jeder der Heuzieher sein Ferggl selbst. Ein Satz Eisenketten kommt vorn drauf, wenn es besonders eisig ist, damit man besser bremsen kann.
- Stackl: Wichtiges Zubehör des Ferggls ist der Stackl, ein dicker Holzstab mit Stahlspitze, der zum Lenken und Bremsen verwendet wird. Und beim steilen Anstieg hinauf auf die Alm verschafft der Stock den Heuziehern im tiefen Schnee Halt.
- Wiesbaum: Der Wiesbaum, ebenfalls Teil des Ferggls, ist ein Fichtenstamm, um den herum mit Seilen das Heu im Idealfall so fixiert wird, dass bei der Fahrt ins Tal „nicht einmal ein Maulvoll“ herausfallen kann.
- Reisl: Das Reisl ist die Heufuhre, die ins Tal gebracht werden soll. Ziel ist es, ein möglichst hübsch drapiertes Reisl, das mit kunstvollen Knoten an den Wiesbaum gebunden ist, hinunter zu den Ziegen ins Tal zu bringen.
Fotogalerie: Heuziehen im Valsertal
Schule der Alm
Zur Bewahrung dieser Kulturlandschaft hat sich im Valsertal sogar ein Verein gegründet: Die „Schule der Alm“. Das erklärte Vereinsziel ist es, Almen und Bergmähder im Valsertal zu erhalten. Das Mittel zum Zweck ist die Freiwilligenarbeit, den ganzen Sommer über können Interessierte auf der Alm mithelfen, für ein paar Tage Bergbauer sein. Zu tun gibt es genug: mähen, melken, schwenden. Die Heuzieher vermitteln die Grundlagen des handwerklichen Könnens. Der Joosn-Hans ist Lehrer für Sensenmähen, der Erich lehrt den Trockensteinmauerbau, Alois ist der Meister des Schrägzauns.
Ganz lässt sich das Alte ohne moderne Hilfsmittel aber auch nicht bewahren: Helga’s Alm hat eine Facebookseite, die Schule der Alm ist auf Twitter, ein Newsletter informiert über die Freiwilligeneinsätze. „Und so soll es sein, denn am allerwichtigsten ist mir, die junge Generation für diese Arbeiten zu motivieren. Schaffen wir das nicht, werden wir diese Techniken für immer verlieren“, beschreibt Helga ihre Motivation hinter dem Projekt. Das Prinzip funktioniert: Die Kurse der Schule der Alm sind zumeist ausgebucht.
Ferggl
Die Ferggl, das sind die Lastschlitten für das Heu. Simpler, aber auch eleganter könnte man sich ein solches Transportmittel gar nicht vorstellen: Vier rund zwei Meter lange Haselnuss-Stangen, drei Querstreben, ein bisschen Seilmaterial. „Vorne hoasst ma’s des Reisjoch, des muss aus starkem Birkenholz sein. Hinten, des is da Spåhl“, erklärt Erich. Selbstverständlich ist jeder der Heuzieher auch gleichzeitig Ferggl-Bauer. „Halten tun die lang, die machen sicher so fünfzig Fahrten mit.“ Als komplettierendes Zubehör sind noch der „Stackl“ – ein dicker Holzstab mit Stahlspitze – und der „Wiesenbaum“ – ein längerer Ast zum Befestigen des Heus – mit dabei. Und ein Satz Eisenketten: „Die kommen vorne drauf, wenn’s besonders eisig ist, damit man den Ferggl besser bremsen kann“, sagt Erich.