Bergsport & Social Media: Ich poste, also bin ich

(A)soziale Medien verändern unsere gesellschaftlichen Normen rasant, in der Stadt wie am Berg. Und treiben mitunter skurrile Blüten: Ein digitaler Streifzug von Kühtänzen über tentporn bis hin zur neuen Verantwortung der Alpenvereine.


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(Über dieses Thema könnte man ein ganzes Buchkapitel schreiben. Hab’ ich demnach getan. Beitrag für das Alpenvereins-Jahrbuch “BERG 2022“. enjoy)

Wer es mal ausprobieren will, die Choreographie geht so: Zuerst den linken Arm gewinkelt anheben, dann den rechten. Breitbeinige Fußposition, den Kopf senken, kurze Kunstpause, die Position für eine Sekunde wirken lassen und auf den Einsatz des Refrains warten; dann wild-fuchtelnd und mit vollem Karacho auf die Kuhherde zu rennen, dabei laut „kulikitaka!“ schreien. Und sich dabei natürlich filmen lassen, auf das Resultat den Hahstag #kulikitakachallenge kleben und – in einer generationsübergreifenden Selbstverständlichkeit – auf einer von einem totalitären Staat[1] kontrollieren Videoplattform posten.

Das kommt an: Gut 20 Millionen Einträge[2] finden sich dazu auf TikTok. Kühe erschrecken ist kurzzeitig ein Trend geworden, benannt nach dem Merengue-Titel „Kulikitaka“ des karibischen Sängers Toño Rosario (auch bekannt als El Kukito, El Rompe Puerta oder El King Kong Del Merengue), mit dem das Erschrecken der Tiere unterlegt wird. Soll wohl irgendwie lustig sein und eine gute Portion Likes einbringen. Hihi, kurz gelacht, und weitergescrollt zum nächsten leicht konsumierbaren Entertainment-Häppchen.

Kulikitaka ist ein Beispiel für einen kurzzeitig aufflammenden Trend, einen Hype, ein soziales Phänomen. Ausgelöst durch die videoaufnahmefähigen Supercomputer in unser aller Hosentaschen und einer wirren Sehnsucht nach Aufmerksamkeit in unserer medial überladenen Welt. Und das Phänomen ist in den Bergen angekommen, denn zu erschreckende Kühe findet man eben auch artgerecht auf Almweiden.

Einen irren Tanz mit dem primären Ziel, Kühe (oder auch andere Lebewesen) zu erschrecken, um das Resultat anschließend im Internet zu veröffentlichen, kann man mühelos lächerlich finden. Oder man kann sich fragen: Warum machen das Menschen? Was sind die Konsequenzen? Oder pragmatischer: „Ernsthaft, ham’s euch alle ins Hirn g’schissen?“ So formuliert es der Bauer Georg Doppler, der ebenfalls auf dem Kanal aktiv wurde, um den Unsinn dort zu stoppen, wo er aufpoppte. Denn aufgeschreckte 700 Kilogramm Fleisch, die zur Verteidigung des Reviers oder des Kälbchens in deine Richtung laufen statt von dir weg, da ist dann relativ schnell Schluss mit lustig[3].

Warum Sie das hier lesen? Die Kulikitaka-Challenge ist ein skurriles Beispiel dafür, wie die sogenannten sozialen Medien das Verhalten von Nutzer*innen verändern, am Berg wie in der Stadt. Keine U-Bahn-Station, wo nicht die überwiegende Mehrzahl der auf das Verkehrsmittel Wartenden in ein internetfähiges Mobiltelefon starrt. Kein Berggipfel, wo nicht zumindest für ein Gipfelselfie das Smartphone gezückt wird. Schnell wie keine andere Technologie zuvor hat das Smartphone unser tägliches Handeln verändert, unser Leben geprägt. Und wie jede Kulturtechnik verlangt auch das Internet seine Zeit, bis ein vernünftiger kollektiver Umgang damit gelernt wird. Auch das ist eine Herausforderung für die Alpenvereine.

Von sozial bis asozial und zurück

Was meinen wir, wenn wir von „sozialen“ Medien reden? Die Mechanismen, die dazu führen, dass viele von uns sich lieber durch algorithmisch kuratierte Inhalte auf ihrem Telefon ablenken lassen, als mit einem in unmittelbarer Nähe befindlichen Mitmenschen aus Fleisch und Blut in Austausch zu gehen? Die Möglichkeit, der Oma ein Bild des nunmehr voller Stolz pflugfahrenden Enkelchens direkt von der Piste zu schicken? Das Vehikel für meinen angestauten Frust, wenn der Alpenverein mal wieder was zum Thema Klimakrise postet?

Die Grundmechanismen sind soweit bekannt: Es geht um unsere rare Aufmerksamkeit, die gefesselt werden will. Die harte Währung der Plattformen sind die Nutzerdaten, die gesammelt und anschließend monetarisiert werden. Die einfache Gleichung lautet: Mehr Nutzer*innen, mehr Zeit auf der Plattform, mehr Verbindungen, mehr Interaktion – ist gleich mehr Werbeeinnahmen. Diesem Maximierungsprinzip ist das gesamte Design der Apps und Websites untergeordnet und in abstrakter Weise der Grund, warum wir oft behaupten, social media mache „süchtig“.

Es ist, wie im echten Leben auch, ein zutiefst menschliches Streben nach Anerkennung, dass uns immer wieder auf die bunten Icons auf unserem Smartphone drücken lässt. Statt einem Schulterklopfer gibt es im Digitalen eben ein Herzchen oder hundert, statt einer aufmunternden Bemerkung einen share. Und wenn man einmal einen kleinen Glücksschub durch sein Posting bekommen hat, dann will man selbiges eben immer und immer wieder. „Short term dopamine driven feedback loops[4]“ (auf die kurzfristige Ausschüttung von Dopamin zielende Rückkopplungsschleifen) nennt das Chamath Palihapitiya, der bis 2011 für das Nutzerwachstum von Facebook verantwortlich war. Retrospektiv betrachtet, meint er, zerstöre seine Erfindung kurzerhand die Gesellschaft. Weil sie die Verbreitung von Unwahrheiten fördere und einen zivilisiert geführten Diskurs verunmögliche. Völlig übertrieben?

Wissenschaftliche und pseudowissenschaftliche Studien zu dem Seelenheil der Benutzer veröffentlichen Psychologen wie Soziologen in schöner Regelmäßigkeit. Ein richtiger Konsens findet sich aber bis heute nicht: Mal führt der idealisierte Körperkult der Bodybuilder- und Bikiniinfluencerinnen direkt in die Magersucht, dann wieder finden sich durchaus positive Auswirkungen, seine psychischen Leiden auch öffentlich zu debattieren. Mal führt die digitale Vernetzung zu politischen Umwälzungen hin zu mehr Demokratie wie beim Arabischen Frühling, dann wieder spielen sie autoritären Demagogen in die Hände und schwämmen einen Donald Trump ins Präsidentenamt. „Mein Gefühl sagt mir, dass die werbefinanzierten sozialen Netzwerke von Sucht, Klicks und Empörung angetrieben werden. Nicht absichtlich, versteht sich, sie haben sich sicher nicht zum Ziel gesetzt, dass jeder auf jeden wütend ist[5].“ Das kommentiert Jimmy Wales im Jahr 2021, zum 20-jährigen Jubiläum seiner Wikipedia[6].

Man könnte behaupten, es gibt eine ähnliche Ambivalenz wie bei den Kolleg*innen der Ernährungswissenschaften: Mal ist ein Glas Rotwein am Tag der Schlüssel zum hohen Alter, dann wieder jeder Tropfen Alkohol schlecht. So ganz genau weiß es anschaulich niemand, nur Paracelsus hat wahrscheinlich immer noch recht: Dosis facit venenum. Tendenziell werden die meisten von uns natürlich ihre Schokoladenseite im virtuellen Raum präsentieren, eher den epischen Sonnenuntergang posten als den Tag im Homeoffice. Man präsentiert sich, und es geht darum, möglichst charmant, witzig und clever rüberzukommen. Deshalb sind soziale Medien abseits aller wissenschaftlicher Evidenz in erster Linie ein Fegefeuer der Eitelkeiten. Ganz im Sinne von: Schau her, wie schön mein Leben ist!

Skurrile Blüten: Von Zeltpornos und Blumenzertramplern

Es lässt sich behaupten: Die kleinen Supercomputer in unseren Hosentaschen haben nicht nur unseren Medienkonsum in bemerkenswert kurzer Zeit radikal verändert, sie haben auch Auswirkungen auf unser individuelles und gesellschaftliches Handeln, unser Verhalten. Der größte Unterschied zu den vorhergegangenen Wellen der medialen „Revolutionen“ ist die veränderte Rolle der User. Während vom Buchdruck bis hin zum FM-Funk und dem Farbfernseher die allermeisten passive Konsumenten waren, werden wir in der Welt des Internets gleichzeitig auch zu Sendern, zu „Prosumenten“. Wir konsumieren nicht bloß Inhalte, wir produzieren sie auch.

Das führte seit den Anfangstagen des WWW im Grunde zur Erschaffung eines Mythos, der Mythos des Cyberspace, der der Menschheit nichts weniger als eine neue Welt eröffnen würde. Wie jeder Mythos lässt sich auch dieser falsifizieren[7]; Wir wurden durch die Erfindung des World Wide Webs immer noch nicht zu cyborg’schen Übermenschen.  Bezogen auf die Outdoor- und Bergwelt lässt sich seit dem Aufkommen bildlastiger sozialer Netzwerke noch ein weiterer Mythos beobachten: Die unermüdliche Suche nach einer stilisierten und idealisierten Natur – dem Mythos der Wildnis, einer Natur ohne jegliche menschliche Einwirkung. Um sich selbst inmitten einer solchen zwanglos und erhaben in Szene zu setzen, zwingt es die Suchenden nur leider dazu, immer tiefer und tiefer in die scheinbare Wildnis vorzudringen, um dem Mythos aufzuspüren. Und ihn damit ad absurdum zu führen.

In Wüstengegenden gibt es ein seltenes botanisches Phänomen, bei dem ein ungewöhnlich hoher Anteil von Wildblumen, deren Samen im Wüstenboden ruhend gelegen haben, ungefähr zur gleichen Zeit keimt und blüht. Das Resultat dieser „Superblüte“ sind kunterbunte Hügel, beispielsweite knallorange, voller Kalifornischem Mohn. Und wo Wüstengegenden mit knallbunten Hügeln auf eine hochtechnologisierte Gesellschaft treffen, wie etwa im Walker Canyon im südlichen Kalifornien, ereignet sich neben dem uralten natürlichen Phänomen des Superblooms noch ein relativ neues, aber nicht minder faszinierendes, gesellschaftliches Spektakel; eine Vielzahl an mit Kameras und Smartphones ausgestatteten Menschen versucht sich inmitten dieses Blumenmeers möglichst „einmalig“ zu inszenieren.

Die Resultate lassen sich dann natürlich auf Plattformen à la Instagram bewundern und bekommen tonnenweise Herzchen. Aber wie viele niedergetrampelte Blümchen ist ein Like wert? Mit der Reproduktionsvorstellung des Mythos der Inszenierung inmitten unberührter Natur werden ausgewiesene Pfade schnell verlassen, es wird tiefer vorgedrungen, Absperrungen und andere Menschen machen sich nicht so gut am Bild. Also lieber mitten rein ins Blumenmeer, für ein paar Zusatzlikes auch mal gerne leichtbekleidet bis nackt, in Anlehnung an Adam und Eva, nur eben ohne Adam.

Nun ja, na und, sind ein paar geknickte Mohnblumen wirklich so schlimm, könnte man fragen? Wenn es nur ein paar wären, würde das wohl tatsächlich niemandem auffallen. Nur sind soziale Medien kein Randphänomen mehr, sie sind in der Masse angekommen. Im Falle des Walker Canyons führe das 2019 nicht bloß dazu, dass ein paar mehr Menschen die Blumenhügel besichtigen wollten; Es führte zu einem massiven Stau auf der sechsspurigen Autobahn. Es führte auch zu Unfällen, zu einer Überforderung der lokalen Bevölkerung und schlussendlich zur kompletten Sperrung des Walker Canyons. Und zu lustigen wie ernsten Gegenreaktionen, nicht nur in den Massenmedien, sondern auch direkt dort, wo die Inszenierung stattfindet[8], in den Channels selbst.

Aber auch auf der hiesigen Seite des Atlantiks finden sich genügend illustre Beispiele. Von dieser einen malerischen Gumpe hoch über dem Königssee in den Berchtesgadener Alpen, wo man so ein tolles „Infinity-Pool“-Foto schießen kann (solange man nicht in der Gumpe ertrinkt, wie es tragischer Weise zwei jungen Männern im Frühjahr 2019 passiert ist[9]). Vom malerischen Praxer Wildsee in den Dolomiten, wo man unbedingt bei den ersten Sonnenstrahlen mit einem dieser rustikalen Retro-Ruderboote ins endlose Türkis paddeln muss (solange man rechtzeitig dran ist, weil die Zufahrtsstraße mittlerweile untertags für Privatfahrzeuge gesperrt werden musste, chronische Überfüllung). Oder, noch so ein Klassiker, die bitte ob der Dramatik möglichst nebelverhangen schroffen Gipfel der Seceda, vor denen man sich ideal als wilder Bergsteiger inszenieren kann (und dabei keinem erzählt, dass die Standseilbahn hinter dem Rücken der Fotografen im Halbstundentakt neue Bergsteigerhelden ausspuckt).

Allesamt berühmte „Insta-Spots“, über die schon viel geschrieben wurde. Fakt ist, Millionen Menschen wählen mittlerweile ihr Reiseziel anhand der Fotos, die sie auf Instagram sehen. Und jagen damit oftmals dem Mythos der Einsamkeit hinterher um im Endeffekt das zu reproduzieren[10], was eben erfahrungsgemäß „Likes bringt“, so wie erfahrungsgemäß tentporn. Nein, nicht das, was du dir jetzt vorstellst – sondern das Subforum auf Reddit[11], die „majestätische Fotos von Zelten in ihrer natürlichen Umgebung“ sammelt. Schaut eben immer toll aus, wenn ein Zelt in einer einsamen Berglandschaft (immer von innen ausleuchten! Möglichst ein gelbes Zelt nehmen!) posiert, quasi der Inbegriff von remoteness, am Firmament die Milchstraße. Nur leider blöd, dass derartige Fotos zwar meistens tatsächlich majestätisch, aber zumindest in den Alpen zusätzlich auch meistens tatsächlich illegal sind; Wildes campieren ist fast überall verboten.

Die Social-Media-Ambivalenz der Alpenvereine

Für die Alpenvereine mit ihrer gemeinnützigen non-profit Ausrichtung ergibt sich auch im digitalen Raum eine gewisse Sonderrolle: Sie wollen mitreden, müssen aber nicht zwanghaft etwas verkaufen, nicht zwanghaft immer stärker wachsen. Klar, viele views auf den Videos freuen schon, viele likes auf den Posts auch – aber es ist auch mal egal, wenn sie ausbleiben. Wichtiger sind die Themen und der daraus resultierende Diskurs. Und die dürfen eben auch manchmal kritisch (sprich: unpopulär) sein.

Dabei braucht es aber nichts desto trotz eine gewisse Anpassung an die Leitkultur des jeweiligen Mediums, weil man sonst schlicht untergeht. Ein Bild der Drei Zinnen im Sonnenuntergang bringt mit großer Wahrscheinlichkeit zehnmal so viele Däumchen hoch wie das einer Saubere-Berge-Wanderung – für die Themenvielfalt braucht es am Ende des Tages beides, einen ausgewogenen Mix. Denn Accounts, die nur Randthemen bespielen und sich nie zu „like bombs“ überreden lassen, werden auf Dauer in den von den Plattformen diktierten Rahmenbedingungen wahrscheinlich nie richtig „groß“ werden – und die Größe (im Sinne der quantitativen Followerzahl und der daraus resultierenden Reichweite der Postings) bestimmt durchaus mit, wie stark die Stimme im digitalen Kosmos gehört wird, was wiederum auf die klassischen Massenmedien weiterstrahlt. Es macht einen Unterschied, ob eine Organisation ihre Appelle an 1.354 Fans oder an 145.000 richtet. Es geht um das Kampfgewicht.

À propos Verantwortung

Mit der Größe wächst auch die Verantwortung. Und die Alpenvereine können und sollen ihre Kompetenzführerschaft aus der analogen Welt natürlich auch in digitale Sphären transferieren. Social Media Kanäle zu bedienen macht man nicht, weil es gerade hip ist, sondern weil es eine neue Form der Öffentlichkeitsarbeit darstellt. Und weil sich manche, jüngere Zielgruppen auch nur mehr so erreichen lassen. Gerade junge Menschen sind – ob in einer Sturm-und-Drang-Phase oder wegen fehlender Erfahrung – besonders anfällig für gefährliches Halbwissen und in der Phase der Selbstfindung einer ausgeprägten Bringschuld in Sachen Selbstvermarktung ausgesetzt. Frei nach dem Motto: „Was die kann, kann ich auch“. Weil plötzlich nicht mehr nur die Dorfkinder die Peergroup sind, sondern man sich im Digitalen gleich mit der ganzen (westlichen) Welt messen kann (oder muss?), liegt die Latte naturgemäß gleich deutlich höher. The pressure is on!

Es findet ein langsames Erwachen statt, digital Aktive werden sich mehr und mehr ihrer Verantwortung bewusst, vom privaten Boulder-Erschließer bis zum Star der Freeride Worldtour[12]. Ein Element davon ist das geotagging, das exakte Verorten des Bildes oder Videos. Auf der Zugspitze waren zum Beispiel schon 125.879 Personen[13]. Lässt man den Ort bewusst weg, ist es meist nur mehr ortskundigen Personen möglich, den Post geografisch zuzuordnen – was potentielle, der Herausforderung eventuell nicht gewachsene Follower davon abhält, die Action am Foto für ein paar Likes zu reproduzieren (und sich damit möglicherweise dabei in Gefahr zu bringen).

Diese Dynamik können die Alpenvereine aber auch als Chance begreifen: Mit adäquaten Inhalten diese wichtige Zielgruppe genau dort abzuholen, wo sie sich aufhält. Und mit intelligenter Präventions- und Jugendarbeit den Mut zum gesunden Risiko propagieren und gleichzeitig Selbstüberschätzung verhindern. Bei jungen Menschen ein Selbstbewusstsein aufzubauen, das sich nicht an einem Like-Contest misst, sondern an sozialer Verantwortung gegenüber Mitmenschen.

The challenge is on

Die Fütterung von social media Accounts ist eine Gratwanderung zwischen dem Mythos einer akribisch angestrebten Individualität und einer Konformität mit gewissen Plattform-spezifischen Konventionen[14]. Auch – oder vielleicht sogar besonders? – für die Alpenvereine. Neben der oft sehr sinnvollen und kostengünstigen Möglichkeit, eine junge (und gar nicht mehr so junge) Zielgruppe mit wertvollen Informationen zur möglichst sicheren Ausübung der Leidenschaft Bergsport[15] zu versorgen heißt es eben auch: Sich mit jedem Post seiner Verantwortung bewusst zu sein. Nicht jeder Post ist ein paar schnelle Likes wert.

Natürlich gibt es kein Patentrezept über den „richtigen“ Umgang mit den (a)sozialen Medien, die Technik ändert sich ohnehin schneller, als sich die Konventionen dazu entwickeln. Wichtiger sind Überlegungen, die über der Technik stehen: Welche Werte will ich mit meinen digitalen Inhalten vermitteln?

Es geht um einen neuen Respekt vor Mutter Natur, die nicht zur reinen Kulisse für persönliche Inszenierungen degradiert werden will, sondern Fundament allen Lebens ist[16]. Zurück zu einer intrinsischen statt extrinsischen Motivation, sich in ihr zu bewegen. Es geht um ein vermehrtes Innehalten vor dem Drücken auf den publish-Knopf, um ein gezieltes Langsam-werden. Es geht darum, die Kultur des Sensationalismus hinter sich zu lassen und sich wieder vermehrt fundierten Debatten zu widmen. Um emotionale Zuspitzungen gekonnt zu kontern. Es geht auch darum, die profitmaximierenden Geschäftspraktiken der Plattformen zu verstehen und sie entsprechend zu behandeln. Schlussendlich kumuliert das in einem Gedanken, den man bereits von den eigenen Eltern zur Genüge gehört hat: Du musst nicht überall mitmachen, nur weil es alle anderen tun.

Deshalb hier die wagemutigste Challenge von allen. Eine, die sogar ganz ohne Hashtag auskommt: Schalt’ dein Telefon aus und pack’ es ganz versteckt in den Rucksack. Nimm es nicht für Fotos, für Statusupdates, für Kuherschreckvideos. Nimm es als reine Notfallmaßnahme. Filme mit deinen Augen, speichere mit deinen Neuronen, kommuniziere nicht mit deinen Followern, sondern nur mit der Natur. Übe dich in Selbstbeobachtung statt in Selbstdarstellung, in Geduld statt Geposte. Challenge accepted

Beitrag erschienen in: BERG 2022

[1] https://www.rnd.de/digital/bytedance-so-streng-wird-tiktok-kontrolliert-BXEGGQY7NNDR7GUJK65QOFUGBI.html

[2] https://www.tiktok.com/tag/kulikitakachallenge

[3] Mehr als 7000 Verletzungen und neun Todesfälle durch Kühe hat die Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau vergangenes Jahr in allein in Deutschland registriert. Meistens handelt es sich bei den aggressiven Kühen um Muttertiere, die ihre Kälber beschützen wollen. Irgendwie verständlich.

[4] https://www.youtube.com/watch?v=PMotykw0SIk

[5] https://www.spiegel.de/netzwelt/web/wikipedia-wird-20-jahre-wuerde-als-kommerzielles-projekt-gar-nicht-funktionieren-a-3f24703f-50d2-41e0-a907-ce8e785aa5e2

[6] Übrigens die einzige nicht-kommerzielle Website unter den meistbesuchtesten Websites der Welt.

[7] https://mitpress.mit.edu/books/digital-sublime

[8] Der Instagram-Account @publiclandhatesyou sammelt anschaulich Auswirkungen von Menschenmassen in Naturschutzgebieten: www.instagram.com/publiclandshateyou/

[9] https://www.derstandard.at/story/2000119271968/nach-influencer-andrang-infinity-pool-am-koenigssee-wird-gesperrt

[10] Eine anschauliche Collage an Reproduktionen: https://www.instagram.com/insta_repeat/

[11] https://www.reddit.com/r/tentporn/

[12] Gedanken über Verantwortung von Pro-Skier Arianna Tricomi nach dem Tod eines jungen Freeriders nach einem Lawinenunglück 2021: https://www.instagram.com/tv/CKbwFtEngx2/

[13] https://www.facebook.com/zugspitze.de

[14] https://www.researchgate.net/publication/327142787_travelselfie_A_netnographic_study_of_travel_identity_communicated_via_Instagram

[15] Corona-bedingt musste das beliebte „Lawinen-Update“ des Österreichischen Alpenvereins 2020 ins Virtuelle verlagert werden, dank sozialer Medien konnten über 35.000 Personen mit fundiertem Lawinenwissen versorgt werden (www.alpenverein.at/lawinenupdate)

[16] Mit der gemeinsamen Kampagne „#unserealpen“ erzeugten der DAV, ÖAV und AVS im digitalen Raum ein bemerkenswertes Echo zum Schutz der letzten alpinen Freiräume: über 25.000 Mal wurde der Hashtag inzwischen verwendet (https://www.instagram.com/explore/tags/unserealpen)

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